Lahmheit
Lahmheiten sind mit 10 - 15 % nach der Fruchtbarkeit und der Eutergesundheit die dritthäufigste Abgangsursache bei Milchkühen. Obwohl immer mehr Schweizer Milchkühe in Laufställen gehalten werden, in denen die Bewegungsfreiheit die Klauengesundheit eigentlich fördern sollte, haben sich Lahmheitsfälle als Folge von Klauenerkrankungen in den letzten 20 Jahren um das Fünffache erhöht. Fütterungsfehler, schlechte Haltungsbedingungen, mangelnde Herdenbetreuung, schlechte Klauenpflege und die Genetik sind die wichtigsten Ursachen dafür.
Lahmheiten sind in der Regel schmerzhaft und belasten die Tiere schwer. Sie bewegen sich nur ungern, bleiben vermehrt liegen und gehen viel weniger häufig an den Futtertisch. Die Auswirkungen einer Lahmheit sind in einem Laufstall viel ausgeprägter als in einer Anbindehaltung.
Eine Milchkuh, die weniger frisst, produziert auch weniger Milch. Ein Tier mit einem leicht abnormalen Gang (Lahmheitsscore 3) produziert schon 5 % weniger Milch; mit einem Lahmheitsscore von 4 sind es ca. 17 % und wenn ein Tier nur noch auf drei Beinen steht (Lahmheitsscore 5) sind es bis zu 36 % weniger Milch.
Schmerzen beeinträchtigen auch die Fruchtbarkeitsleistung.
Lahmheiten verursachen auch zusätzliche Remontierungs- und Tierarztkosten, einen höheren Antibiotika-Verbrauch sowie zusätzliche Arbeit. Je nach Rechnungsart schätzt man die Kosten einer Lahmheit auf 250 bis 900 Franken. Lahmheiten frühzeitig zu erkennen, ist daher nicht nur aus tierschützerischen Gründen gefordert, sondern auch ökonomisch wertvoll.
Als Massstab für die Gliedmassengesundheit auf Bestandsebene können einfache Kennzahlen auf Grundlage einer guten Dokumentation von Fällen und einer aktuellen Untersuchung ermittelt und genutzt werden.
Kennzahlen der Gliedmassengesundheit auf Bestandsebene:
Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Begriff Lahmheit sowohl von Landwirten aber auch von Tierärzten verschieden interpretiert wird. Die einen sprechen schon von einer Lahmheit, wo die anderen noch von einem unsauberen Gang sprechen. Eine einheitliche Definition wäre wünschenswert.
Diagnostik
Wird bei einer Kuh eine Lahmheit erkannt, so ist diese Feststellung nur das Symptom der Bewegungsstörung und noch keine eigentliche Krankheitsdiagnose. Es muss die Ursache so schnell wie möglich ermittelt und beseitigt werden. Leider wird aber eine Lahmheit oft erst wahrgenommen, wenn das Tier ein oder mehrere Gliedmassen nur noch teilweise belastet.
Lahmheitsscore (Locomotion score)
Der Lahmheitsscore ist ein Werkzeug zur Objektivierung des Schweregrads einer Lahmheit, dient aber auch der Sensibilisierung, um bereits leichtgradige Lahmheiten erkennen zu können. In einem Lauf- oder Anbindestall lassen sich die Tiere am besten im Stehen beobachten, wenn frisches Futter vorgelegt wurde. Dabei schaut man mit geübtem und kritischem Auge auf die Rückenlinie und die Stellung der Vorder- und Hintergliedmassen. Im Gehen werden die Rückenlinie und der Gang der Tiere begutachtet. Ein leicht gekrümmter Rücken, geringfügige Gliedmassenentlastungen oder etwas kürzere Schritte sind die ersten Anzeichen einer Lahmheit.
Untersuchungen am Einzeltier
Zu jedem Lahmheitsuntersuch eines Tieres gehört auch die Beurteilung des Allgemeinzustandes und des Verhaltens. Für die Lahmheitsbeurteilung ist die Körperhaltung beim Stehen und Gehen sehr wichtig, aber auch das Liege- und Aufstehverhalten kann Aufschlüsse geben.
In einem ersten Schritt versucht man, den Lahmheitstyp zu bestimmen. Bei einer Stützbeinlahmheit zeigt das Tier Schmerzen beim „Auffussen“ und Belasten der Gliedmasse, bei einer Hangbeinlahmheit hat das Tier Mühe, die Gliedmasse geordnet nach vorne zu führen. Eine Mischung beider Typen ist nicht selten.
In einem zweiten Schritt versucht man das Problem innerhalb der Gliedmasse zu lokalisieren. Man spricht von einer „hohen Lahmheit“ wenn das Problem oberhalb des Fesselgelenks liegt.
„Tiefe Lahmheiten“ sind bei den Milchkühen viel häufiger. Es sind in der Regel Stützbeinlahmheiten und betroffen sind entweder die Klauen, die Haut/Unterhaut oder die Knochen und Bänder in unmittelbarer Nähe der Klauen. Für eine genauere Beurteilung muss dieser Bereich im Klauenstand untersucht werden.
- Visuelle Kontrolle der gereinigten Klaue.
- Lokalisierung des Problems: Palpation des verdächtigen Bereichs oder Rotation der Gelenke zur Auslösung einer Schmerzreaktion. Eine Klauenuntersuchungszange kann dabei hilfreich sein.
- Nachschneiden des Klauenhorns an verdächtigen Stellen. Sobald es zu bluten beginnt, hat man die Lederhaut, ein nervenführendes (= schmerzempfindliches) Gewebe erreicht und weitergehende Untersuchungen oder Behandlungen dürfen nur nach vorangehender Anästhesie durch den Tierarzt durchgeführt werden.
Die häufigsten Erkrankungen im Klauenbereich sind Klauengeschwüre, (eitrig) lose Wand, Abszesse, Klauenrehe, Ballenfäule, Panaritium und Erdbeerkrankheit.
Untersuchungen bei Herdenproblemen
Drei Schritte sind notwendig
- Die Lahmheitsfälle der letzten Zeit (in der Regel 1 Jahr zurück) dokumentieren.
- Beurteilung der gesamten Kuhherde mit Hilfe des Lahmheitsscore.
- Untersuchung von Klauen und Gliedmassen von Tieren mit Lahmheit, ev. auch Tiere ohne Lahmheit. Bei grösseren Herden je eine Stichprobe von Tieren.
Untersuchungen während der regelmässigen Klauenpflege ermöglichen, die Arbeit des Klauenpflegers zu beurteilen.
Risikofaktoren/Ursachen
Die Klauengesundheit in einem Milchviehbetrieb ist ein komplexes multifaktorielles Geschehen. Dies bedeutet, dass viele verschiedene Faktoren darüber entscheiden, ob die Klauengesundheit gut, beeinträchtigt oder schlecht ausfällt.
ehlerhafte Haltungsbedingungen, Fütterungsfehler, Mangelzustände, Stoffwechselstörungen, Infektionen, Fehlbelastungen nach unsachgemässer Klauenpflege und hereditäre Veranlagungen führen zur Bildung von minderwertigem Horn. Die Klaue kann ihre Funktion nicht mehr vollständig erfüllen und es entstehen Klauenkrankheiten.
Einige Gedanken zu einzelnen Risikofaktoren:
Haltungsbedingungen:
- Laufflächen:
- Zu glatte Laufflächen begünstigen Unfälle, dagegen kann der Abrieb der Klauen durch raue Oberflächen zu stark sein.
- Hygiene der Laufflächen: Feuchte, mit Kot und Harn bedeckte Laufflächen weichen das Klauenhorn auf und begünstigen dadurch Klauenerkrankungen.
- Komfort und Hygiene im Liegebereich: Schmutzige, harte, zu kleine und schlecht konzipierte Liegeboxen werden von den Tieren zu wenig benutzt, was zu verlängerten Stehzeiten mit entsprechender Überbelastung der Klauen führt.
- Lange Wartezeiten vor dem Melken, Overcrowding (= mehr Tiere als Liegeplätze), glatte Laufgänge, Sackgassen und fehlende Ausweichmöglichkeiten vermindern die Bewegungsfreiheit, erhöhen das Unfallrisiko und die Stehzeit der Tiere, was zu einer Überbelastung der Klauen führt.
- Verletzungsgefahr durch zu breite Schieberrinnen, defekte Spaltenböden, fehlmontierte Steuerelemente, steinige Wege usw.
Fütterungsfehler, speziell solche, die zu einer Klauenrehe (auch zu einer subklinischen) führen, sind zu vermeiden, da diese Wegbereiterin für viele Klauenerkrankungen ist. Dabei spielt die SAPA (Subakute Pansenazidose) eine bedeutende Rolle.
- Rationen mit zu wenig Struktur und/oder zu hohem Anteil an Kraftfutter.
- Schlecht gemischte TMR: Die Tiere vernachlässigen den Faseranteil der Ration.
- Zu rasche Rationsumstellungen.
- Bei Wassermangel wird weniger puffender Speichel produziert und die durch Pansenmetabolismus anfallenden Säuren werden weniger verdünnt.
- Bei Hitzestress fressen die Tiere weniger Raufutter und produzieren weniger puffender Speichel.
- Mit Schimmel und Fehlgärungskeime kontaminiertes Futter stört stark die Pansenflora und führt zu reduziertem Wiederkauen.
- Mangel an Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen - alles essentielle Bausteine für gesundes, widerstandsfähiges Klauenhorn.
Stoffwechselstörungen
- Der Zeitraum um die Geburt ist für die Entstehung von Stoffwechselkrankheiten speziell kritisch (Futterumstellung, Adaptation des Pansen an die neue Ration, Steigerung der Milchleistung).
Infektionskrankheiten
- Gebärmutterentzündungen ev. als Folge eines Nachgeburtsverhaltens oder klinische Euterentzündungen führen ebenfalls zu einer Verzehrsdepression. Zusätzlich können bakterielle Giftstoffe in den Kreislauf gelangen. Dies kann zu Zirkulationsstörungen im Klauenbereich führen, was wiederum die Bildung von minderwertigem Horn zur Folge hat.
Hereditäre Veranlagungen
- Kühe der Holstein-Rasse haben einen tieferen Ballen und neigen mehr als andere Rassen zu Ballenfäule und Erdbeerkrankheit.
Klauenpflege
- Fehlende regelmässige funktionelle Klauenpflege.
- Unsachgemäss durchgeführte Klauenpflege (nicht nach dem Standard der funktionellen Klauenpflege: zu tiefe Ballen, zu lange Spitzen, abgetragene Tragränder, fehlende Hohlkehlungen usw.) führen zu Fehlstellungen und Fehlbelastungen.
Prophylaxe
Statt auf Krankheiten reagieren zu müssen, ist es sinnvoller, durch geeignete Vorbeugemassnahmen dafür zu sorgen, dass Lahmheiten möglichst wenig auftreten. Eine artgerechte Fütterung, optimale Haltungsbedingungen, regelmässige funktionelle Klauenpflege sowie der Beizug des Tierarztes bei Problemfällen sind die wichtigsten Punkte.
Haltungsbedingungen optimieren
- Laufflächenbeschaffenheit und -Hygiene: Sauber, trocken, trittsicher, rutschfest.
- Schieber: Höhe maximal 20 cm; Geschwindigkeit maximal 4 m pro Minute; Führungsrinne maximal 3.5 cm breit, mehrmals täglich laufen lassen.
- Bewegungsfreiheit: Breite Laufgänge und genügend Quergänge ohne Sackgassen, genügend Ausweichmöglichkeiten, kein Overcrowding.
- Liegeflächen und deren Hygiene: Saubere, weiche, verformbare, gut dimensionierte und gestaltete Liegeboxen. Für Kühe geeignete Einstreu verwenden (kein Sägemehl).
- Stallklima: Zu hohe Feuchtigkeit und Hitzestress vermeiden.
Angepasste Fütterung (siehe auch Risikofaktoren)
- Störung der Vormagentätigkeit durch entsprechendes Fütterungsmanagement und wiederkäuergerechte Ration vermeiden.
- Tier ausgewogen ernähren: Energie und Eiweiss, Mengenelemente, Spurenelemente und Vitamine.
- Fütterung: Keine verdorbenen Silagen verfüttern.
- Optimale Wasserversorgung sicherstellen.
Einsatz von Ergänzungsfuttermittel
- Natrium-Bikarbonat kann bei kraftfutterreichen Rationen helfen, eine Pansenazidose zu vermeiden, solange dessen Gabe zeitlich mit der Kraftfuttergabe abgestimmt ist.
- Zink verbessert die Hornqualität. Organisches Zink über die Nahrung verabreichen. Dosis: 50 -100 mg / kg TS.
- Kupfer kann bei Mangel zu Hornschäden führen. Eine Überversorgung kann zu Kupfervergiftung führen. Dosis: 10 mg / kg TS.
- Nur eine Supplementierung mit 20 mg Biotin / Tier und Tag über mehrere Monate hinweg kann die Hornqualität verbessern. In einem gut funktionierenden Pansen bilden die Pansenbakterien ausreichend Biotin für die Versorgung der Tiere.
- Ein direkter Einfluss von Selen auf die Klauengesundheit ist nicht bekannt.
Stoffwechselkrankheiten und Infektionskrankheiten vermeiden
- Verfettung während der Galtzeit vermeiden.
- Langsamer Futterwechsel.
- Leistungsgerechte Fütterung.
- Krankheiten möglichst rasch diagnostizieren und behandeln.
Klauenpflege
- Häufigkeit und Zeitpunkt: regelmässig, 2 bis 3 Mal pro Jahr.
- Die funktionelle Klauenpflege nach Toussaint-Raven ist die Methode der Wahl. Sie legt besonderen Wert auf die physiologische Biomechanik der Klauen und führt zu einer möglichst gleichmässigen Verteilung des Körpergewichtes auf alle Klauenpaare.
Klauenbäder
- Allgemeines:
- Um eine Verunreinigung mit der Milch zu vermeiden, sollten Klauenbäder nach dem Melkstand installiert werden.
- Klauen müssen vor der Passage durch das Klauenbad gereinigt werden (Vorbad, Abspritzen).
- Maximal 50 bis 60 Kuh-Passagen pro Badelösung.
- Ausführung: Länge 2.5 - 3 m, Breite 1 m, Tiefe 15 cm.
- Lösungen: Kupfer- und Zinksulfat-Lösungen (3 - 5 %), industrielle Lösungen mit Tensiden oder organischen Säuren.
Therapie
Ein lahmes Tier benötigt eine gründliche Abklärung. Lahme Milchkühe in den Klauenstand zu führen, ist nur dann umständlich und zeitraubend, wenn es im Betriebsablauf nicht vorgesehen ist. In grösseren Betrieben lohnt es sich, dass der Klauenstand innerhalb von wenigen Minuten von jedem Punkt des Stalles aus erreichbar und Teil der Stalleinrichtung ist.
Die Therapie richtet sich nach der Erkrankung. Leichtere Fälle können vom Landwirt selber gelöst werden, für schwerwiegendere muss der Tierarzt beigezogen werden.
Einige Richtlinien bei Problemen im Klauenbereich
- Das Zurückschneiden der Klauen nach dem Prinzip der funktionellen Klauenpflege gehört immer dazu.
- Korrektur von Spreiz-, Zwangs-, Kipp- und Reheklaue.
- Diese Korrekturen können häufig nicht in einem Schritt durchgeführt werden. Nachfolgende Pflege einige Wochen später ist notwendig.
- Alles faule und lose Horn wegschneiden.
- Läsionen trichterförmig ausschneiden, keine scharfen Ränder stehen lassen.
- Tiefere Läsionen müssen durch den Tierarzt behandelt werden.
- Ein Klauenverband dient dazu, den Schmutz von der Wunde fernzuhalten. Er muss spätestens nach 3 - 5 Tagen gewechselt werden. Sobald eine kleine Schutzschicht über der Wunde liegt, sollten keine Verbände mehr angelegt werden, da die Wunde an der Luft besser abheilt. Tiere in einer sauberen Umgebung aufstallen.
- Ein Kothurn (Holz- oder Gummiklotz) dient der Entlastung der erkrankten Klaue. Diese nimmt der Kuh nicht nur den schlimmsten Schmerz, sondern fördert ungemein die Abheilung der Wunde.
- Auf die gesunde Nachbarklaue kleben.
- Der Ballenbereich muss frei bleiben.
- Keinen Klebestoff auf den Kronsaum geben.
- Kothurn nach Abheilung der Wunde entfernen und nicht abwarten, bis er selber abfällt.
- Das Klauenbad ist keine eigentliche Therapie, sondern eine Prophylaxemassnahme.
- Hohe Lahmheiten müssen in der Regel durch den Tierarzt abgeklärt werden. Je nach Krankheit kann die Prognose dabei sehr ungünstig ausfallen.
Medikamente
Je nach Krankheit werden verschiedenartige Medikamente eingesetzt. Neben verschiedensten Wundsalben wird bei Infektionen auch Antibiotika angewandt, entweder lokal auf die Wunde oder systemisch durch eine Injektion ins Blut oder in die Muskulatur. Entzündungshemmer sind gleichzeitig auch Schmerzmittel und in vielen Fällen, vor allem auch bei hohen Lahmheiten, indiziert. Der Tierarzt ist die Fachperson für solche Behandlungen.